Das Bedürfnis, einer kleineren oder größeren Gemeinschaft anzugehören und gemeinsam zu handeln, ist eine Konstante in der Geschichte der Menschheit. Der Kapitalismus und mit ihm das Aufkommen des Populismus in der Politik haben zwar – vor allem im Westen – die Tendenz gehabt, den Individualismus zu betonen, die Individuen zu vereinzeln und an den Egoismus der Einzelnen zu appellieren, doch das Grundbedürfnis, sich für eine gemeinsame Sache einzusetzen und in einer Gemeinschaft zu leben, die über die Kernfamilie hinausgeht, hat überlebt.

Weit entfernt, eine primitive Form der Organisation zu sein, ist die Familie vielmehr ein sehr spätes Produkt menschlicher Entwicklung. Soweit wir in die Paläo-Ethnologie der Menschheit zurückgehen können, finden wir Menschen, die in Gesellschaften leben […] Gesellschaften, Horden oder Stämme – nicht Familien waren also die ursprüngliche Form der Organisation der Menschheit und unserer frühesten Vorfahren.“

Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Verlag von Theodor Thomas 1908, S. 80

Gemeinschaft neu gedacht

Während die spaltende Wirkung des Egoismus bekannt ist, muss Individualismus in Zeiten des Kapitalismus kein Hindernis sein, sich anderen anzuschließen. Im Gegenteil: Individualismus führt dazu, dass wir bewusster wählen, in welche Gesellschaft wir eintreten. Anstatt wie früher einfach in eine Gemeinschaft hineingeboren zu werden, suchen und bilden wir in der Postmoderne unsere Gemeinschaften selbst nach unseren Visionen und Wünschen.

So entsteht ein neues Verständnis von Zugehörigkeit. Gemeinschaft ist nicht länger etwas Vorgegebenes, sondern etwas, das wir aktiv gestalten. Wir verbinden uns nicht mehr nur über unsere Herkunft oder unsere Traditionen, sondern über unsere Werte, Ideen und Lebenshaltungen. Wo Menschen sich begegnen, weil sie von ähnlichen Fragen bewegt werden und ähnliche Antworten suchen, wächst eine andere Art des Miteinanders: offener, wandelbarer und bewusster.

Doch diese Freiheit hat auch ihre Kehrseite. Je mehr Gemeinschaft zur Wahl wird, desto fragiler kann sie erscheinen. Beziehungen und Gruppen verändern sich, wenn sich Lebenswege trennen oder Prioritäten verschieben. Gemeinschaft ist somit kein stabiler Zustand mehr, sondern ein fortlaufender Prozess, ein Raum, der immer wieder neu geschaffen werden muss. Aber vielleicht liegt genau darin ihre Stärke: in der Möglichkeit, Freiheit und Verbundenheit miteinander zu denken, statt sie gegeneinander auszuspielen.

Ein neues „Wir“ im Zeitalter des „Ichs“

Gruppierungen bilden sich und lösen sich wieder auf, sodass die Mitglieder nicht lebenslang aneinander gebunden sind. Sekten sind womöglich ein Überbleibsel herkömmlicher Zwangsgemeinschaften. Aufgrund ihrer Tendenz zur Abschottung entwickeln sie meist einen autoritären Charakter. Freiwillige Zusammenschlüsse können sich hingegen soziokratisch organisieren und so zu einem Modell für eine freiere, weniger hierarchisch organisierte Gesellschaft werden. Soziokratisches Handeln kann in Vereinen, Verbänden und in gelebten sozialen Netzwerken (gemeint sind nicht Facebook und Co) erlernt und zur Gewohnheit gemacht werden.

Dieses neue „Wir“ entsteht nicht durch Unterordnung, sondern durch Aushandlung. Es beruht auf dem Vertrauen, dass Unterschiedlichkeit keine Gefahr, sondern eine Ressource ist. In diesen flexiblen Formen des Miteinanders zeigt sich eine Kultur des Zuhörens, des Konsenses und der geteilten Verantwortung. Entscheidungen werden nicht mehr von oben getroffen, sondern gemeinsam aus der Mitte heraus – durch Gespräch, Beteiligung und das gemeinsame Ringen um Balance.

Auf diese Weise verändert sich das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Das Ich verliert sich nicht im Wir, sondern findet dort Resonanz. Gemeinschaft wird zur Übung in gegenseitiger Achtung, ein Raum, in dem Autonomie und Solidarität sich nicht ausschließen, sondern einander ermöglichen. Das neue „Wir” ist somit kein Rückschritt in alte Bindungsformen, sondern ein Schritt nach vorn hin zu einer Gesellschaft, die Zusammenhalt nicht fordert, sondern hervorbringt.

gemeinsam handeln - 10 Jahresfest der Kleinen Stadtfarm - Still-Foto aus der Doku 'Learning from the Grassroots: Land in Sicht' - Copyright: Eva Pudill

Zivilgesellschaft: Macht des Dazwischen

Vereine, Verbände und soziale Netzwerke sind in der Regel weder staatlich gesteuert noch von wirtschaftlichen Gewinninteressen geprägt. Als Zivilgesellschaft wird jener gesellschaftliche Raum bezeichnet, in dem sich Menschen selbstorganisiert zusammenschließen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen und gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen.

Die Wurzeln dieses Konzeptes der Zivilgesellschaft reichen weit zurück: von Montesquieus Idee der Gewaltenteilung, welche die staatliche Macht begrenzt, über Hegels systematische Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft bis hin zu Tocquevilles Betonung freiwilliger Zusammenschlüsse als Grundlage einer lebendigen Demokratie. Demnach kann die Zivilgesellschaft verhindern, dass die herrschenden Klassen – heute internationale Konzerne und ihre Lobbys – despotisch regieren.

In dieser Zwischenzone liegt die eigentliche Stärke demokratischer Gesellschaften. Hier formieren sich Meinungen, werden Interessen ausgehandelt und soziale Innovationen erprobt – lange bevor sie politische oder ökonomische Realität werden. Die Zivilgesellschaft ist somit ein Labor sozialer Vorstellungskraft, ein Ort, an dem sich Bürgerinnen und Bürger jenseits institutioneller Macht-Strukturen organisieren und kollektives Handeln üben.

Gerade in einer Zeit, in der politische Institutionen an Vertrauen verlieren und wirtschaftliche Logiken immer tiefer in den Alltag eindringen, kommt dieser Sphäre eine neue Bedeutung zu. Sie ist das soziale Korrektiv zwischen Macht und Ohnmacht, Markt und Moral sowie öffentlicher Ordnung und individueller Freiheit. Ihre Stärke liegt in der Vernetzung – in der Fähigkeit, Unterschiede zu überbrücken und Verantwortung zu teilen. Die Zivilgesellschaft verkörpert somit die Macht des Dazwischen: Sie hält die Räume offen, in denen Demokratie gelebt und nicht nur verwaltet wird.

Der umkämpfte Raum der Freiheit

Der Raum, in dem sich öffentliche Macht entfalten kann, muss aber auch in einer offenen Gesellschaft durch politisches Handeln immer wieder neu erkämpft werden. In einer demokratischen Gesellschaft ist Freiheit kein gegebener Zustand, sondern ein fortwährender Prozess, der durch das Engagement der Bürger:innen geschützt und gestärkt werden muss. Diese Freiheit ist nie selbstverständlich, sondern muss immer wieder gegen den Druck autoritärer Kräfte, monopolisierter Wirtschaftsinteressen und den Zwang zur Normierung verteidigt werden. In diesem Spannungsfeld entsteht das Verständnis des „öffentlichen Raums“ als Arena, in der Konflikte zwischen individuellen Rechten, kollektiven Interessen und staatlicher Autorität ausgehandelt werden.

Doch zivilgesellschaftliche Bewegungen und Netzwerke verteidigen den demokratischen Raum nicht nur, sondern sie erweitern ihn auch ständig, indem sie ihn inklusiver und vielfältiger gestalten. Schließlich spielt die Zivilgesellschaft auch eine wichtige Rolle bei der Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Integration. In einer Welt, in der soziale Unterschiede und politische Polarisierungen zunehmen, bieten zivilgesellschaftliche Organisationen eine Plattform für den Dialog. Sie helfen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, indem sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Überzeugungen und Interessen miteinander verbinden und gemeinsame Anliegen fördern.

Im Visier autoritärer Politik

Doch gerade jetzt wird immer deutlicher: Das Konzept der Zivilgesellschaft – ein zentraler Schutzmechanismus gegen die Konzentration von Macht – steht heute so stark unter Druck wie selten zuvor. Der Raum für politische Auseinandersetzungen, den zivilgesellschaftliche Bewegungen eröffnen, wird zunehmend von politischen Akteuren und wirtschaftlichen Interessen bedroht.

Einerseits geraten zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Umweltschutz einsetzen, immer häufiger ins Visier rechter, konservativer oder autoritärer Parteien und Regierungen. Diese stellen nicht nur ihre Legitimität infrage, sondern diskreditieren auch ihre Themen als „unnötige” oder „gefährliche” Störungen des öffentlichen Friedens und des wirtschaftlichen Wachstums. In vielen Ländern werden Aktivist:innen nicht nur verbal attackiert, sondern auch mit staatlichen Repressionen konfrontiert. Sie werden überwacht, kriminalisiert und ihre Organisationen durch bürokratische Hürden oder sogar gesetzliche Verbote zum Schweigen gebracht. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv zur Macht ist in vielen Teilen der Welt in ihren Grundrechten eingeschränkt. Dennoch bleibt ihre Rolle als Hüterin der Demokratie und der Interessen von Minderheiten von entscheidender Bedeutung.

Kollektiver Bewusstseinswandel

Andererseits erleben wir derzeit einen aussergewöhnlichen kollektiven Bewusstseinswandel. Selten zuvor sind so viele Menschen mit solcher Entschlossenheit auf die Straße gegangen, um die Räume der Zivilgesellschaft zu verteidigen und ihre Bedeutung für Demokratie und Freiheit zu unterstreichen. Millionen junger Menschen weltweit beteiligen sich an den Klimastreiks von Fridays for Future, und fordern die Politik auf, den Planeten zu schützen und sich für eine wirklich nachhaltige Zukunft einzusetzen. In ganz Italien und weit darüber hinaus marschieren Menschen aus Solidarität mit Gaza und schließen sich einer globalen Bewegung für Würde und Menschenrechte an.

In den Vereinigten Staaten haben Millionen an „No Kings“-Protesten teilgenommen, um sich gegen den Aufstieg des Autoritarismus zu wehren und für demokratische Prinzipien einzutreten. Auf dem Klimagipfel COP30 in Belém, Brasilien, protestieren unterdessen Tausende indigene Menschen aus dem Amazonasgebiet und der ganzen Welt gegen die zahnlosen, performativen Nachhaltigkeitskampagnen der internationalen Gemeinschaft. Viele von ihnen sind mit der „Yaku Mama“ Flotte 3.000 Kilometer durch den Amazonas gereist, um zumindest in Belém ihre Stimme zu erheben – außerhalb der COP30, zu der sie, anders als die Erdöl-Lobby, nicht eingeladen waren.

All diese Proteste zeigen, dass den Menschen die Notwendigkeit einer starken und aktiven Zivilgesellschaft bewusst ist. In einem zunehmend fragmentierten politischen Klima erkennen immer mehr Menschen, dass der öffentliche Raum nicht nur eine Bühne für symbolische Gesten ist. Er ist ein lebendiger Schauplatz, an dem konkurrierende Zukunftsvisionen aufeinanderprallen, gemeinsame Normen ausgehandelt werden und die Grenzen des politisch Möglichen erweitert werden können. Öffentliche Plätze, Straßen und Gemeindeforen sind somit wieder zu wichtigen Infrastrukturen für die kollektive Sinnfindung geworden. Sie sind Orte, an denen Menschen ihre Überzeugungen auf die Probe stellen und Solidaritäten bilden.

Politisches Handeln als neuer Anfang

Diese Mobilisierungen sind daher weit mehr als spontane Reaktionen auf einzelne Ungerechtigkeiten oder kurzfristige Krisen. Sie spiegeln einen tieferen, strukturellen Wandel wider: die wachsende Erkenntnis, dass die Zivilgesellschaft nicht nur ein Nebenprodukt der Demokratie ist, sondern ihr pulsierendes Herz. In zivilgesellschaftlichen Netzwerken, Basisorganisationen und Massenmobilisierungen wird die demokratische Kultur erneuert, autoritäre Tendenzen werden infrage gestellt und alternative Vorstellungswelten gepflegt. Der Mut, mit dem sich Menschen in das öffentliche Leben begeben – oft unter großem persönlichem Risiko und mit der Gefahr von Verhaftung, Unterdrückung und gezielter Diffamierung – signalisiert ein kollektives Verständnis dafür, dass Freiheit nicht von selbst erhalten bleibt.

Ein weiterer Aspekt dieses umkämpften Raums ist, dass die Zivilgesellschaft nicht nur Widerstand leistet, sondern auch alternative Lösungen und Modelle für die Zukunft entwickelt. Somit ist die Zivilgesellschaft nicht nur ein Raum der Verteidigung, sondern auch ein Raum für Visionen. Hier entstehen Modelle für eine andere Wirtschaft, eine gerechtere Gesellschaft und eine lebenswertere Zukunft für alle. Aus diesem Geist heraus ist „Learning from the Grassroots” entstanden. Das Projekt versucht, Freiräume zu erkunden, in denen Menschen nicht nur zusammenkommen, um Widerstand zu leisten, sondern um neue Formen des Lebens, der Organisation und der Zugehörigkeit zu schaffen.

Die Philosophin Hannah Arendt bezeichnet dieses gemeinsame Handeln als zweite Geburt. Wir werden zwar, so Arendt, in eine Welt hineingeboren, die schon vor unserer Geburt existiert. Aber sobald wir uns unserer Existenz bewusst werden, greifen wir sprechend und handelnd in das Geschehen ein. Mit dem Begriff der Natalität macht Hannah Arendt darauf aufmerksam, dass die einzigartige Perspektive des Individuums, das im gemeinsamen Handeln zu seiner zweiten Geburt erwacht, etwas radikal Neues in sich birgt, eine Möglichkeit des Handelns, die es vorher nicht gab. Diese zweite Geburt bejaht durch das gemeinsame, sinnstiftende Handeln die nackte Tatsache des Geborenwerdens (griechisch: Zoé) und übernimmt dafür Verantwortung.

Macht selbst kann ihrem wahren Sinne nach niemals von einem Menschen allein besessen werden, Macht tritt gleichsam auf mysteriöse Weise immer dann in Erscheinung, wenn Menschen gemeinsam handeln und sie verschwindet in nicht weniger mysteriöser Weise, sobald ein Mensch ganz bei sich selbst ist.“

Hannah Arendt, in: „Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt“ Offizin, 2004, S. 26.

gemeinsam handeln - Kistl Informationstag von Land in Sicht; Still-Foto aus der Doku 'Learning from the Grassroots' Copyright: Eva Pudill