Learning from the Grassroots“ dokumentiert gemeinsames politisches Handeln in mehrstimmigen, filmischen Erzählungen. Unsere Mission ist es, neue Formen des Erzählens zu entwickeln, bei denen die Akteur:innen stärker als bisher in den Entstehungsprozess der Geschichten eingebunden werden.

Mehrstimmiges Erzählen bringt kreative und ethische Herausforderungen mit sich. Kollektive Prozesse vereinen eine Vielzahl von Perspektiven, Persönlichkeiten und Motivationen. Um diese Vielfalt sichtbar zu machen, ohne das Publikum zu überfordern, ist eine sorgfältige Gestaltung der Erzählung notwendig.

Die Kunst des mehrstimmigen Erzählens

In der Regel wird eine Geschichte aus der Perspektive einer einzelnen Person erzählt, die durch ihre Erfahrungen, Überzeugungen und ihre Sicht auf die Welt geprägt ist. Kommen jedoch mehrere Stimmen zusammen, verändert sich die Erzählstruktur grundlegend. Die dramaturgische Aufgabe besteht dann darin, diese Perspektiven so miteinander zu verweben, dass einerseits die Verständlichkeit erhalten bleibt und andererseits Spannung und emotionale Tiefe erreicht werden.

Diese Herausforderung setzt nicht nur eine sorgfältige Auswahl der Erzählstränge voraus, sondern auch die Fähigkeit, den komplexen Dialog zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen zu gestalten. Denn jede Stimme bringt eine einzigartige Wahrheit mit sich, die es zu akzeptieren gilt. Die Kunst besteht darin, diese perspektivischen Wahrheiten zu einem Ganzen zu verbinden, ohne die Authentizität der einzelnen Stimmen zu verlieren.

Mehrstimmiges Erzählen fordert das Publikum heraus, nicht nur die Perspektiven der Akteur:innen der einzelnen Erzählstränge, sondern auch die komplexen Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen und Motivationen zu verstehen. Das Ergebnis ist eine dynamische Erzählweise, die die Vielfalt des kollektiven Handelns widerspiegelt und die tiefere Bedeutung hinter den einzelnen Stimmen zugänglich macht.

Erzählen als kollektive Handlung

Wenn es darum geht, gemeinsame Anliegen in eine politische Erzählung zu übersetzen, ist es entscheidend, dass alle Beteiligten diese mittragen können. Wir verstehen unsere Protagonist:innen daher nicht als passive Interviewpartner:innen, sondern als Mitautor:innen. Die Entscheidungen, die sie zu Themen, Perspektiven und Drehorten treffen, beeinflussen aktiv die Gestaltung der filmischen Erzählung und machen den Erzählprozess selbst zu einer kooperativen Erfahrung.

Damit kollektives oder mehrstimmiges Erzählen gelingt, braucht es Balance: Niemand soll für andere sprechen – und doch müssen die verschiedenen Erzählstränge miteinander in Beziehung treten. Erst im Zusammenspiel entsteht eine fesselnde, kohärente Geschichte. Dieser integrative Prozess verlangt nicht nur Respekt vor der Vielfalt der Stimmen, sondern auch eine ständige Auseinandersetzung mit den Spannungen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven ergeben können.

Jede Entscheidung – sei es die Wahl eines Themas oder die Perspektive auf ein Ereignis – wird in Absprache mit den Protagonist:innen der jeweiligen Erzählstränge getroffen. Insgesamt trägt diese Entscheidungsfindung zu einer kollektiven Vision bei, die über die individuellen Perspektiven hinausgeht. So entsteht nicht nur eine Geschichte, sondern ein mehrstimmiges Mosaik, das die Komplexität der realen Welt widerspiegelt.

Letztendlich geht das mehrstimmige Erzählen über eine reine Dokumentation der Handlung der Protagonist:innen hinaus. Es regt die Zuschauer dazu an, sich aktiv mit den behandelten Themen auseinanderzusetzen und sich in die Perspektiven der Protagonist:innen hineinzuversetzen, um diese in all ihrer Tiefe und emotionalen Komplexität zu erfassen.

Vernetztes Denken, gemeinsames Gestalten

Learning from the Grassroots“ entsteht in engem Austausch mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken, Forscher:innen und Aktivist:innen. Durch diesen Dialog möchten wir das Verständnis für kollektive Prozesse stärken und aufzeigen, wie lokale Initiativen globale Fragen von Gerechtigkeit, Ernährungssouveränität und Nachhaltigkeit miteinander verknüpfen.

Dieser Austausch ist ein kreativer und politischer Akt zugleich. Es geht darum, Perspektiven und Erfahrungen von der Graswurzelebene aufzugreifen, sie miteinander zu verbinden und damit neue Einsichten zu schaffen, die über den lokalen Kontext hinausreichen.

Wir verstehen filmisches Erzählen nicht nur als Dokumentation, sondern auch als ein Werkzeug der Reflexion und des Dialogs. Mit unseren Filmen möchten wir Denkräume eröffnen und das Publikum nicht nur informieren, sondern auch dazu anregen, über alternative Formen des Zusammenlebens, der Arbeit und des politischen Handelns nachzudenken, die im Einklang mit den Bedürfnissen der Erde und der Gemeinschaft stehen.

Unsere Arbeit ist mehr als ein künstlerischer Beitrag – sie ist ein aktiver Teil einer wachsenden Bewegung, die neue Narrative für eine sozial-ökologische Transformation entwickelt. Durch die Förderung des Dialogs zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteur:innen möchten wir zu einem tieferen Verständnis darüber beitragen, wie Wandel auf allen Ebenen – von der lokalen Gemeinschaft bis zur globalen Struktur – stattfinden kann.

Mehrstimmiges Erzählen - Montagsbesprechung von Land in Sicht - Still-Foto aus der Doku 'Learning from the Grassroots: Land in Sicht' - Copyright: Eva Pudill

Beteiligung in allen Produktionsphasen

Während das Filmteam letztendlich die Verantwortung für die endgültige Gestaltung der Erzählung behält, sind die Protagonist:innen an mehreren wichtigen Phasen des Filmemachens beteiligt.

1. Konzeptualisierung: In gemeinsamen Brainstorming-Sitzungen werden erste Ideen und Überlegungen gesammelt. Die Teilnehmer:innen identifizieren Schlüsselthemen und Perspektiven, die sie in dem Film behandeln möchten.

2. Kartierung: Es wird eine visuelle Karte erstellt, um die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen, Organisationen, Verbänden oder Unternehmen sowie die thematischen Verbindungen zwischen ihnen darzustellen.

3. Stoffentwicklung: Sobald ein Entwurf für das dramaturgische Konzept vorliegt, wird dieser mit den Protagonist:innen der Erzählstränge geteilt und diskutiert. Feedback wird gesammelt und integriert.

4. Produktion und Postproduktion: Im Laufe der Dreharbeiten und des Schnitts werden den Teilnehmer:innen verschiedene Versionen der Erzählstränge zur Verfügung gestellt. Sie können Einwände erheben, wenn ihre Perspektiven falsch dargestellt werden.

Für all diese Schritte der Beteiligung gibt es ein passwortgeschütztes Diskussionsforum – lftgr.net/buendnisse, das nur den beteiligten Akteur:innen zugänglich ist.

Unsere Kernfrage:

Wie können wir den Erzählprozess so gestalten, dass sich die Teilnehmenden wirklich einbezogen und in der politischen Geschichte, die erzählt wird, zutreffend dargestellt fühlen?

Verhandelte Bilder, gemeinsame Bedeutungen

Unser Ziel ist es, eine ko-kreative und nicht-hierarchische Beziehung zwischen den Filmemachern und den Protagonist:innen aufzubauen. Wir streben eine gemeinsame Interpretationshoheit an, damit der fertige Film nicht nur von den porträtierten Menschen handelt, sondern auch gemeinsam mit ihnen gestaltet wird. Durch diesen kollaborativen Prozess wird die Erzählung zu einem Raum der Verhandlung von Bildern, Bedeutungen und Repräsentation – ein Raum, in dem verschiedene Perspektiven nicht nur nebeneinander bestehen, sondern miteinander in Dialog treten.

Mehrstimmiges Erzählen ist nicht nur eine ästhetische Praxis, sondern auch ein politischer Akt, der die Machtverhältnisse beim Filmemachen infrage stellt. Wer bestimmt, wie eine Geschichte erzählt wird? Wer kontrolliert das Bild und die Bedeutungen, die es vermittelt? Indem wir diese Fragen in den Mittelpunkt stellen, tragen wir zu einer dezentralen und inklusiven Form des Erzählens bei. Dadurch erhalten die Protagonist:innen die Möglichkeit, ihre eigenen Narrative zu entwickeln und sich selbst zu repräsentieren.

Die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, welche Bedeutungen wir hervorheben und wie wir bestimmte Bilder und Symbole konstruieren, hat direkte Auswirkungen auf das Verständnis von Identität, Macht und Zugehörigkeit. Erzählen ist eine politische Handlung, die den Raum für eine neue Form sozialer und politischer Praxis schafft – eine Praxis, die von denjenigen geprägt ist, die in den Erzählungen selbst vertreten sind.

Durch Erzählung […] verwirklicht sich das eigentlich politische Denken. Durch das nacherzählte Handeln, das Erzählung ausmacht, bezieht sich der Mensch auf das Leben oder gehört zum Leben, insofern menschliches Leben unweigerlich politisches Leben ist. Die Erzählung ist die erste Dimension, in der ein Mensch lebt, durch Bíos und nicht durch Zoé, ein politisches Leben und/oder ein anderen Menschen überliefertes Leben.“

Julia Kristeva, Die Banalität des Bösen, in: Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, S. 131.