
Warum Graswurzeln?
Erde, die nicht von einem Wurzelnetz durchzogen wird, ist anfällig für Erosion durch Wasser und Wind. Während Baumwurzeln meist zur Veranschaulichung von Hierarchien dienen, zeichnen sich Graswurzeln dadurch aus, dass sie ein Oberflächennetz bilden, das – übertragen auf menschliche Netzwerke – den basisdemokratischen Zusammenhalt auf einer Ebene betont.
Mit unserem Blog- und Videoprojekt Von den Graswurzeln lernen wollen wir auf Netzwerke von Bio- oder Zero-Budget-Bauern aufmerksam machen, die sich nicht nur als NahrungsmittelproduzentInnen verstehen, sondern deren Anliegen es ist, auf die spezifischen Gegebenheiten des Ökosystems, in dem sie arbeiten, Rücksicht zu nehmen.
Der Schutz des Bodens ist das Hauptziel terrestrischer Graswurzelnetzwerke – ein Begriff, der von dem Philosophen Bruno Latour geprägt wurde. „Terrestrisch“ bedeutet wörtlich: zum Territorium gehörend.
Anliegen der terrestrischen Haltung ist es, das Territorium, auf dem wir ‚angekommen‘ sind (es muss nicht dasselbe Territorium sein, auf dem wir geboren wurden und aufgewachsen sind) zu schützen, uns zugehörig und verantwortlich zu fühlen, statt es bloß zu einer Erweiterung des Egos zu machen (mein Territorium, mein Grund, meine Nation).
Es heißt auch, im Hier und Jetzt (unserer schon ziemlich beschädigten Welt) anzukommen, statt in eine vermeintlich ‚heilere‘ Vergangenheit oder eine technisch noch ausgeklügeltere Zukunft zu flüchten. Es geht darum, die Gegebenheiten anzuerkennen und den Schutz des Territoriums vor industrieller Ausbeutung (durch Umweltgifte, Versiegelung des Bodens oder Ausbeutung der Ressourcen), und die Wiederbelebung des Bodens durch Mikroorganismen zur höchsten Priorität zu machen.
Der Gegenpol zu dieser terrestrischen Haltung ist die neoliberale Globalisierungsbewegung, die immer neue Territorien für die Ausbeutung der Erde – oder, wie in den Plänen, den Mars bewohnbar zu machen, sichtbar wird, sogar anderer Planeten – sucht.
Die ‚Sprache‘ der Erde interpretieren
Ökologisch sensible Landwirtschaft ist eine sehr spezifische, kreative und intelligente Antwort auf die ‚Sprache‘ des Bodens. Der Boden zeigt durch Indizien (etwa das Wuchern bestimmter Pflanzen) an, ob Bodenorganismen für eine gute Zufuhr von Nährstoffen zu den Pflanzen sorgen oder nicht. Ökologisch bewusste Bauern erkennen diese Anzeichen und sind deshalb – in den Worten Sir Albert Howards – die „intimsten Interpreten“ dieser Sprache des Bodens.
Die erste Bedeutung von „Lernen von den Graswurzeln“ ist daher, dass wir lernen, die Anzeichen des Bodens richtig zu interpretieren.
Im Zusammenhang unseres Projekts bedeutet lernen, kreativ auf spezifische ökologische und soziale Realitäten einzugehen oder auf diese spontan zu ‚antworten‘.
Eine Begehung des jeweiligen Territoriums – wenn möglich gemeinsam mit mehreren Mitgliedern des Netzwerks der interviewten Bäuerin – soll immer Teil der Begegnung mit dem terrestrischen Netzwerk der Interviewten sein.
Diese Begegnungen werden zunächst in Österreich und später in Indien stattfinden.
Warum Österreich?
Mit über 25 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche, die 2019 biologisch bewirtschaftet wurde, hat Österreich den höchsten Anteil an biologisch bewirtschafteter Fläche in der EU und den dritthöchsten weltweit (Steinwidder und Starz 2020).
Die Entwicklung des regulierten Bio-Sektors hat in Österreich eine Geschichte von über 35 Jahren. Österreich hat einen starken Biobauernverband (Bio Austria), der vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Regionen und Wasserwirtschaft angeregt wurde, um die Umsetzung der Bioverordnungen zu erleichtern.
Aufgrund dieses hohen Anteils an Biobetrieben hat die österreichische Regierung ein positives Selbstbild als Land der Biobetriebe geschaffen. Gleichzeitig ist es ausgerechnet der österreichische Landwirtschaftsminister, der einen Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, die den Pestizideinsatz bis 2030 um 50 % reduzieren will, torpediert.
Warum Indien?
Der Selbstmord von Hunderttausenden von Bauern in Indien infolge der Grünen Revolution und der Liberalisierung des Agrarmarktes, sowie zunehmende Konflikte um Wasser einerseits, aber auch eine Gegenbewegung zurück zu einer biologischen Zero-Budget-Landwirtschaft, oder Permakultur, die oft von gut ausgebildeten Menschen initiiert wird, die nach Generationen der Arbeit in den Städten wieder aufs Land zurückkehren, sowie eine Tradition von sozialen und ökologischen Graswurzel-Netzwerken, sind Gründe, warum es sich lohnt, in Indien von den Graswurzeln zu lernen.
Shodh Yatra
Die Frage, WIE wir von den Graswurzeln lernen können, ist dabei nicht vordefiniert. Vielmehr ist sie durch den Prozess selbst erst zu erforschen.
Eine in Indien etablierte Praxis, von den Graswurzeln zu lernen, ist die Gandhische Shodh Yatra (Sanskrit: Such-Gang). Eine Gruppe von Graswurzel-InitiatorInnen, die gemeinsam einen bestimmten, sozialen oder ökologischen Wandel herbeiführen wollen, geht dabei zu Fuß, oft hunderte Kilometer, über mehrere Wochen, durch Dörfer, um mit den Menschen vor Ort mehr über die Hindernisse auf dem Weg zu dieser Veränderung herauszufinden.
Die Konfrontation mit der Natur, die unbequemen Bedingungen dieser Reise zu Fuß (die Reisenden übernachten oft ungeschützt in der Natur), sowie die transformierenden Begegnungen mit Menschen, deren Probleme den Weg zur gewünschten Veränderung weisen können, machen diese gemeinsame Wanderung auch zu einer Transformation für jeden einzelnen Teilnehmer. Diskussionen und Selbstreflexion in der Wandergruppe schärfen darüber hinaus das kollektive Bewusstsein.
Inspiriert von dieser Praxis, sind gemeinsamen Begehungen des bearbeiteten Landes und Besuche von Nachbarn ein wichtiger Teil des Projekts. Diese Begegnungen sind immer spontane Antworten auf die Umstände, die sich beim Gehen ergeben. Jede dieser Begegnungen ist einzigartig, und kann wiederum wegweisend sein für weitere Möglichkeiten, von den Graswurzeln zu lernen. Dieser kollektive Prozess soll auf dem Learning from the Grassroots Blog und in den Video-Dokus dokumentiert werden.
Unterschiedliche Arten, zu lernen
Wie schon erwähnt, kann von den Graswurzeln lernen zunächst bedeuten, dass wir von BiobäuerInnen lernen, die Anzeichen des Bodens zu interpretieren.
In den Video-Dokus geht es darum, von Graswurzel-Netzwerken zu lernen, denen es bereits gelungen ist, lebenserhaltende Gemeinschaftsstrukturen aufzubauen.
Nicht zuletzt können wir von Bauern und Bäuerinnen in Ländern des globalen Südens lernen, die bei der Umstellung auf den ökologischen Landbau mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten zu kämpfen haben: ausgelaugte Böden, Dürre, Zerstörung ihrer Ökosysteme, übermäßiger Einsatz von Pestiziden und gentechnisch verändertem Saatgut im Zuge der grünen Revolution, Verlust der Artenvielfalt sowie neokoloniale politische Strukturen in ihrer Gesellschaft, der Kampf gegen Großkonzerne, die ihre Ökosysteme schädigen und ausbeuten, und die negativen Auswirkungen subventionierter Importe von Agrarprodukten aus den USA und der EU.
Von den Graswurzeln zu lernen bedeutet aber auch, zu lernen, Hierarchien abzubauen oder – wenn Organisation unumgänglich ist – diese flach zu halten. Viele Probleme entstehen in der Landwirtschaft dadurch, dass ‚von oben‘ (durch bürokratische Vorgaben und Richtlinien) interveniert wird. Die Graswurzel-Perspektive spielt bei politischen Entscheidungen in Brüssel oder Delhi selten eine Rolle. Viel mehr sind die Entscheidungen, die den Landwirten aufgedrängt werden, oft der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den Interessen der Lobby der industriellen Landwirtschaft und dem Ziel der Ernährungssouveränität des Staates oder Staatenverbundes.
Deshalb sind Plattformen, die es erlauben, die Perspektive zu wechseln, wichtig. ‚Von den Graswurzeln lernen‚ soll im Laufe der Zeit zu einem solchen basisdemokratischen Netzwerk heranwachsen. Ein Graswurzelnetzwerk, dem der gemeinsame Schutz der Erde ein Anliegen ist und in dem alle Beteiligten über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg lernen können.